Der Sommer der Wildschweine (gebundenes Buch)

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Bibliographische Informationen
ISBN/EAN: 9783492056229
Sprache: Deutsch
Seiten: 152 S.
Fomat (h/b/t): 2 x 21 x 13.3 cm
Bindung: gebundenes Buch

Autorenportrait

Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, lebt im Süden Frankreichs. Ihr umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2007 erhielt sie die Brüder-Grimm-Professur an der Kasseler Universität.

Leseprobe

Es war der Sommer der Wildschweine. Und es war der Sommer, in dem alles anders wurde. Wenn man genau überlegt, was in diesem Sommer passiert ist: eigentlich nicht viel. Jedenfalls uns nicht. Aber manchmal muss gar nicht viel passieren, und dennoch steht hinterher kein Stein mehr auf dem anderen, und tatsächlich stand hinterher kein Stein mehr auf dem anderen, und vielleicht war das gut so. Aber es ist gefährlich. Im Laufe des Sommers hat der Boden unter unseren Füßen angefangen, sich zu bewegen, es gab erst leise und dann immer stärkere tektonische Reibungen, Zerrungen, Deformationen, irgendwelche lithosphärischen Vorgänge, kein Erdbeben natürlich, kein Vulkanausbruch, nur eben dass der Boden, auf dem du stehst, keine sehr stabile Grundlage für deine Schritte mehr ist, wir haben alle vier angefangen zu schwanken, obwohl Johnny und Anouk anfangs gar nicht dabei waren, und dazu kamen auch noch die Wildschweine. Solche tektonischen Vorgänge gibt es in jedem Leben, in Ihrem sicherlich auch. In unserem Leben haben wir uns gewissermaßen daran gewöhnt, dass von Zeit zu Zeit die Erde bebt, und dann überlegst du: Erdbeben oder Weltuntergang. Seit wir denken können, schwankt uns immer mal wieder der Boden unter den Füßen, dass wir denken, das war's jetzt, Weltuntergang, weil demnächst die Miete fällig ist oder der Winter kommt. Mit dem Winter ist das Heizen dran, und sonderbarerweise bebt die Erde nur selten im Sommer, jedenfalls unter unseren Füßen, sondern immer ab Oktober, November, wenn das Heizen demnächst dran ist, es hat mit der Weltwirtschaft zu tun, die gern nach den Sommerferien und noch lieber nach den Wahlen zusammenkracht, und gewählt wird meistens im Herbst, jedenfalls in den Ländern, die entscheiden, wann die Weltwirtschaft zusammenkracht. Bei den anderen bebt die Erde im Grunde rund ums Jahr, also können sie auch wählen, wann sie wollen, das hat mit der Weltwirtschaft nichts zu tun, aber nach unserer Erfahrung jedenfalls bricht die Weltwirtschaft kurz vor dem Winter zusammen, auch wenn sich so ein Zusammenbruch oft schon im Sommer ankündigt; allerdings sind im Sommer immer alle, die so einen Zusammenbruch logistisch organisieren müssen, in Urlaub; es ist eine Menge Logistik nötig, damit örtliche Zusammenbrüche nicht nur einzelne Länder und Volkswirtschaften erwischen, sondern die Wirkung möglichst weltweit durchschlägt, und natürlich müssen die Typen, die mit dem Zusammenbruch, Abteilung globale Logistik, also flächendeckend, befasst sind, im Sommer genauso in Urlaub fahren wie alle anderen Menschen auch, wie die Parlamentarier und Premierminister, die Kanzler und Studienräte und wer sonst noch so im Sommer in Urlaub fährt, um sich anschließend frisch erholt und frohgemut dem Zusammenbruch logistisch widmen zu können, dass er ordnungsgemäß zustande kommt, bevor im Winter das Heizen dran ist und wir uns fragen, wie wir die nächste Miete zahlen sollen. Aber diesmal war es keine Weltwirtschaftskrise mit den üblichen tektonischen Verwerfungen, es war etwas anderes. Schon wegen der Wildschweine. Alles fing harmlos an. Es war unser erster Urlaub seit ewig. Seit der Bretagne, sagte Milan. Seit Tunesien, sagte ich. Tunesien zählt nicht, sagte Milan, und in gewisser Weise hatte er recht, weil wir last minute nach Tunesien gefahren waren, als wir alle nach der Lungenentzündung gerade so halbwegs wieder auf den Beinen standen und uns mühsam daran gewöhnen mussten, noch am Leben zu sein, es war ein ekelhafter März, nass und ganz ohne Sonne, Johnny war gerade mal drei und die Kleine noch nicht auf der Welt. Charter zählt nicht, Charter ist das, wo die Leute schon beim Abflug Bermudashorts anhaben; im Flugzeug fotografieren sie mit ihren Handys die Wolken, saufen sich einen an, und bei der Landung wird geklatscht. Also seit der Bretagne. Da war Johnny auch noch nicht auf der Welt, da waren wir noch zu zweit. Weißt du noch, die Kuhwiese mit den Schafen und Ziegen, sagte Milan. Und ob, sagte ich. VWKäfer, defekte Bremse