Die Raben von Carcassonne (gebundenes Buch)

Die Raben von Carcassonne

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Bibliographische Informationen
ISBN/EAN: 9783570007679
Sprache: Deutsch
Seiten: 336 S.
Fomat (h/b/t): 3.3 x 22.2 x 14.2 cm
Bindung: gebundenes Buch

Beschreibung

Im tiefsten Mittelalter wird Leander in die hundertjährige Henkersdynastie der südfranzösischen Stadt Carcassonne hineingeboren. Obwohl er mit Begeisterung liest und lernt und mit seinen Mandelaugen so gar nicht dem gemeinen Bild eines Scharfrichters entspricht, tritt er in die blutigen Fußstapfen seines Vaters. Kunstvoll übt er sein grausiges Handwerk aus und kann den Verurteilten dank seiner medizinischen Kenntnisse einen schmerzlosen Tod versprechen. Sein einsames, stolzes Leben ändert sich, als eine verurteilte Ketzerin in ihm den Erben des heiligen Grals, des unermeßlichen Schatzes der Katharer, zu erkennen glaubt. Das Amulett der Sterbenden wird dem Henker zum Schicksal. Denn die katholische Kirche bereitet die endgültige Vernichtung der Katharer vor. Nicht zuletzt um herauszufinden, worin die gefährliche Fasznination dieser christlichen Sekte besteht. Im dritten Teil seiner ebenso meisterhaften wie opulenten Mittelalter-Trilogie lässt E. W. Heine die Abenddämmerung des Mittelalters in allen Farben schimmern.

Leseprobe

In der Nacht hatte es geregnet. In den schlammigen Pfützen auf dem Platz vor der Basilika Saint Nazaire spiegelten sich die Türme des Gotteshauses. Von allen Dächern tropfte die Nässe, rann über zerfurchtes Gemäuer und altersrissige Fassaden, nährte rostige Rinnen und versickerte in ungepflasterten Gassen. Im ersten Morgengrauen hatten sie auf einem Ochsengespann die Balken für das Gerüst herbeigekarrt, auf dem der Scheiterhaufen brennen sollte. Nun waren die Knechte des Henkers damit beschäftigt, sie zusammenzunageln. Dumpf und drohend wie Trommelschlag vor der Schlacht klang ihr Hämmern durch das noch schlafende Carcassonne. Die Raben vor dem Tour de Prison beobachteten sie gespannt, so als wüssten sie, dass es hier bald Fleisch geben würde. Die Stadt erwartete ihr Opfer. Wäre sein Name im Taufregister verzeichnet gewesen, so hätte dort Leander Luis Latour gestanden. Da sich aber kein Priester gefunden hatte, der bereit gewesen wäre, den Bastard des Henkers zu taufen, so war seine irdische Existenz in den Kirchenbüchern von Carcassonne nicht dokumentiert worden. Er hieß Leander, aber niemand nannte ihn so. So wie sich keiner erdreistet hätte, seinen Bischof oder König mit Taufnamen anzusprechen, so wie man davor zurückschreckte, ihm ins Angesicht zu blicken oder ihm gar die Hand zu geben. Er war namenlos, namenlos wie der Allmächtige. Er stand außerhalb der Gesetze, denn er war der Einzige, der eigenhändig ungestraft töten durfte. Er brach einem Menschen das Genick und besuchte anschließend die heilige Messe in der Basilika, nicht durch das Kirchenportal wie alle anderen, sondern durch die eigens für ihn errichtete Henkerspforte, um sich auf dem für ihn freigehaltenen Platz niederzulassen, ein Vorrecht, das sonst nur dem hohen Adel eingeräumt wurde. Wenn er durch die Menge ging, wichen die Menschen respektvoll zurück, wie einst das Meer vor Moses und dem auserwählten Volk. Sie liebten ihn nicht, sie fürchteten ihn. Aber war nicht auch ihre Gottesfurcht größer als ihre Liebe zum Allmächtigen? Der Henker von Carcassone stand vor der eisenbeschlagenen Kerkertür im Kellergeschoss des Henkerturms und betrachtete die Verurteilte. Er beobachtete sie mit der wachen Sorgfalt, mit der Eulenvögel ihre Opfer beäugen, bevor sie ihnen den Garaus machen. Der Sehschlitz oberhalb des Türschlosses war so geschickt angebracht, dass die Gefangenen ihn nicht wahrzunehmen vermochten. Dennoch schien die Frau die Blicke des Henkers zu spüren. Sie verdeckte ihr Gesicht mit den Handflächen wie ein Kind, das sich schämt. Nach einer Weile erhob sie sich und begann umherzulaufen, mit müden, schlurfenden Schritten wie einer, der einen langen beschwerlichen Fußweg hinter sich gebracht hat. Mein Gott, wie mager diese Vandalmonde de Castanier war! Jetzt blieb sie stehen. Ihre Augen suchten das Licht, das über ihr durch eine vergitterte Maueröffnung fiel. Das kalte Licht des neuen Tages erhellte ihre Gesichtszüge. Sie waren von gespenstischer Blässe. Das Haar hing ihr wirr bis über die Augen. Das blutige Kinn, die aufgeplatzte Oberlippe - der Henker nahm das alles zur Kenntnis wie ein Maler, der das Bild dieser todgeweihten Frau in sich aufnehmen will, um es zu einem Kunstwerk zu verarbeiten. Nun, auch der Henker war ein Künstler. Eine gute Hinrichtung erforderte allerhöchste Kunstfertigkeit, Beobachtungsgabe und anatomische Studien. Körpergewicht, Alter und die richtige Einschätzung des Knochenbaus bestimmten die Länge des Galgenstricks. Um einem Mann das Genick zu brechen, musste die Fallhöhe sorgfältig berechnet werden. War sie zu kurz, wurde der Ärmste stranguliert. Zappelnd wie ein Fisch an der Angel hing er dann am Galgenholz. War der Strick zu lang oder der Mann zu schwer, so wurde ihm mit einem Ruck der Kopf abgerissen. Noch schwieriger verhielt es sich mit der Enthauptung. Es bedurfte höchster Zielgenauigkeit und eines kräftigen Hiebes, um die Nackenwirbel mit einem Schlag zu durchtrennen. Mit Recht wurde die Arbeit des Scharfrichters höher honoriert als die des Stadtmedikus. Der brauchte dem kranken Körper nur zu helfen, mit dem Leiden allein fertig zu werden. Ein zum Tode Verurteilter aber wehrte sich mit jeder Faser seines Leibes gegen seine Vernichtung. Da gab es keine natürliche Kraft, die dem Henker geholfen hätte. Er musste seine verantwortungsvolle Aufgabe allein bewältigen, vor den Augen der ganzen Stadt. Aber diesem Weib hier würde er nicht den Kopf abschlagen. Sie würde auch nicht ihre Seele am Galgen aushauchen, sie würde wie alle Hexen und Häretiker brennen. Die Gefangene stand jetzt mit erhobenen Händen unter dem Fensterloch, als wollte sie nach dem Licht greifen. Die Morgensonne färbte ihre Finger blutrot. Ihre Lippen bewegten sich wie im Gebet. »Gott sei deiner Seele gnädig«, sagte Leander Latour, »niemand sonst wird es sein.« Sie hörte seine Worte nicht. Die Glocken der Basilica Saint Nazaire, die zur Frühmesse riefen, verschluckten sie. Die Hinrichtungen erfolgten immer in den frühen Morgenstunden, nicht aber die Verbrennungen. Sie begannen erst nach Sonnenuntergang, wenn die Flammen vor dem nachtschwarzen Himmel am wirkungsvollsten in Erscheinung traten. Leander Latour hatte Zeit.